Stadt
Interview: Learnings aus Indien
Rund 350 Seilbahnprojekte wurden beim staatlichen indischen Infrastrukturunternehmen National Highway Logistics Management Limited (NHLML) zur Prüfung eingereicht, darunter viele im urbanen Raum. Das Planungsbüro SALZMANN INGENIEURE untersucht gemeinsam mit den Ingenieuren der BERNARD Gruppe, welche dieser Ideen Sinn machen – und plant realisierbare Projekte weiter. Geschäftsführer Stephan Salzmann im SI Urban Interview über die aktuellen Projekte „Varanasi 2“ und „Kamakhya“ – und welche Learnings weltweit relevant sind.
SI Urban: Herr Salzmann, eine Ihrer Aufgaben für NHLML sind die sogenannten Prefeasibility Studies. Was dürfen wir uns darunter vorstellen – und warum sind sie so wichtig?
Stephan Salzmann: Pläne für urbane Seilbahnen aus allen Bundesstaaten Indiens kommen meist von einer Partei oder einer Initiative für ein konkretes Verkehrsproblem.
Meist ist es nur eine Idee, manchmal sogar nur zwei Ortsnamen. Wir prüfen, ob das Projekt generell Sinn macht und ob eine klassische Machbarkeitsstudie überhaupt gerechtfertigt ist.
Wir haben daher ein Anforderungsprofil für urbane Seilbahnen entwickelt. Hier hilft unsere Erfahrung aus mehr als 50 Jahren Seilbahnplanung, über 250 realisierten Seilbahnen und rund 150 Machbarkeitsstudien.
Für die Vorstudie sehen wir uns vor Ort die Start- und Endpunkte sowie den geplanten Trassenverlauf an: Ist die Seilbahn technisch machbar und auch sinnvoll? Stehen die benötigten Grundstücke zur Verfügung?
Stimmen die Stakeholder – in Indien etwa die Armee, die Eisenbahn, das Tempelmanagement, die Naturschutzbehörde und lokale Akteure der Idee grundsätzlich zu? Ganz wichtig ist auch die Erhebung der Förderleistung der Seilbahn in Bezug auf den Bedarf.
Unsere Partner – die Ingenieure der BERNARD Gruppe – berechnen, wie viele Fahrgäste die Seilbahn nutzen würden. Wir prüfen wiederum, mit welchem Seilbahnsystem die erforderliche Förderleistung machbar wäre.
Showcase Varanasi
Die Seilbahn Varanasi 1 (rote Linie) wird derzeit gebaut. Varanasi 2
(grüne Linie) soll noch heuer ausgeschrieben werden.
Wäre dieses Vorgehen etwa auch für Europa ratsam?
Ja, denn dort werden urbane Seilbahnpläne oft unvorbereitet öffentlich kommuniziert. Auf die dann folgenden, meist unbegründeten Vorbehalte hat man sich vorab keine Argumente zurechtgelegt. Um die Diskussion wieder einzufangen, wird oft eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Die kommt aber zu früh!
Unsere Erfahrung zeigt, dass die Grundlagen für eine sinnvolle Untersuchung meist nicht vorhanden sind. Das Ergebnis der Machbarkeitsstudie ist dann unbrauchbar und kann von Gegnern leicht angegriffen werden. Da kann der Ersteller nichts dafür, da fehlt die Vorarbeit, ähnlich wie wir sie in den eingangs erwähnten Prefeasibility-Studies leisten.
Showcase Varanasi
Der Namo Ghat, eine religiöse Badestelle, ist das Ziel der zweiten urbanen Seilbahnlinie in Varanasi. © SALZMANN
Zurück nach Indien: Was folgt nach der Vorstudie?
Erachten wir – und die NHLML – ein Projekt grundsätzlich für sinnvoll, starten wir mit dem „Request for Proposal“. Diese Phase umfasst die klassische Machbarkeitsstudie, die Laserscanvermessung und die Vorbereitung der Ausschreibung.
In Indien bewirbt sich daraufhin meist ein Contractor, der sich einen Seilbahnhersteller sucht, die Bahn baut und dann für mindestens fünf Jahre betreibt. Anschließend kauft die NHLML die Seilbahn zu einem vereinbarten Preis zurück. Der Bau wird von einem Applied Engineer überwacht.
Bestes Beispiel hierfür wäre Varanasi?
Ja, die Seilbahnpläne in der Pilgerstadt am Ganges sind sicherlich wegweisend. Die erste Linie Varanasi 1 befindet sich bereits im Bau. Die Einseilumlaufbahn mit 10er-Kabinen führt bald vom Bahnhof Varanasi Cantt über die Stationen Vidya Peeth und Rath Yatra bis zum Tempelbezirk Godowlia Chowk.
Für die zweite Linie Varanasi 2 stellen wir derzeit die Linienführung fertig, dabei müssen wir noch zumindest zwei weitere, zukünftig geplante Seilbahnlinien mitdenken.
Varanasi 2 startet am Busbahnhof des Bahnhofes Cantt – also in Umsteignähe von Varanasi 1 – und führt über vier Zwischenstationen zum Namo Ghat, einer religiösen Badestelle am Ganges.
Die Seilbahn erschließt auf ihrem Weg eine Universität, ein Gewerbegebiet und den Bahnhof Varanasi City Station. Die Förderleistung der rund fünf Kilometer langen Seilbahn wird wohl rund 3.000 Personen pro Stunde und Richtung betragen.
Der Tempelbezirk Kamakhya in Guwahati
ist das Ziel vieler Pilger. Die Seilbahn soll die beliebte Attraktion komfortabel erschließen.
Welche Herausforderungen stellen sich in Varanasi – und sind diese auf andere Teile der Welt übertragbar?
In Indien dürfen nur öffentliche Grundstücke für Stationen und Stützen verwendet werden. Diese müssen vorab zur Verfügung stehen, können also nicht im Projektablauf erworben werden. Das ist in anderen Ländern nicht der Fall.
In Varanasi stehen daher einige Stützen auf Straßen. Hier sind Tischkonstruktionen nötig, unter denen der Verkehr hindurchfahren kann. Dies kann wiederum ein weltweites Vorbild sein, sollte es enge Platzverhältnisse geben.
Zudem müssen wir in Varanasi Brandgefahren evaluieren und Freileitungen aus dem Weg gehen – das ist ebenfalls weltweit übertragbar. Und auch die frühe Einbindung der Stakeholder ist sicher auch in anderen Ländern ein Erfolgsfaktor, damit urbane Seilbahnen gelingen.
Wovon sich Indien etwa von Europa unterscheidet, sind die Überfahrtrechte. Wir können in Varanasi mit Seil und Fahrzeugen über Grundstücke hinwegfahren, ohne die Zustimmung der Eigentümer und Bewohner einholen zu müssen. Wobei die Bevölkerung die Entlastung durch die Seilbahn ohnehin begrüßt.
Die Seilbahn in Guwahati
soll vom Bahnhof zum Tempelbezirk Kamakhya führen und 800 Personen pro Stunde transportieren.
Welche Rolle spielt der Tourismus bei urbanen Seilbahnen?
Der Hauptzweck von Varanasi 2 ist es – neben den Einheimischen – die Pilger und Touristen zu transportieren. Wir reden in Varanasi insgesamt von mehreren 100.000 Besuchern täglich!
Mit der Fahrt über den Dächern der Stadt ist die Seilbahn von sich aus eine Attraktion, unterstützt aber gleichzeitig die Besucherlenkung, um andere religiöse Badestellen zu entlasten. Varanasi 2 ist also eine Hybridanlage aus urbaner und touristischer Nutzung.
Reine städtetouristische Seilbahnpläne gibt es natürlich auch. Aktuell arbeiten wir an einer Seilbahn in Guwahati, Assam. Hier soll der Tempelbezirk Kamakhya erschlossen werden. Bisher gelangen die Menschen nur zu Fuß oder mühsamer Autofahrt auf den Berg.
Die Seilbahn soll hier eine schnelle und komfortable Alternative schaffen. Die Talstation wird direkt neben dem Bahnhof positioniert, damit die Pilger und Touristen direkt vom Zug in die Seilbahn einsteigen können.
Selbstverständlich sind bei solch einem Projekt die Dimensionen kleiner: Wir reden hier von einer Förderleistung von 800 Personen pro Stunde und Richtung bei einer Bahnlänge von 1,7 Kilometern. Solch eine Anlage lässt sich weltweit umsetzen!